Ende März waren die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten der Europäischen Union in Frieden und Freundschaft vereint, um das Jubiläum der Europäischen Union zu feiern. Das allein ist eine Errungenschaft, die viele als unvorstellbar hielten, als sich die Gründungsmitgliedsstaaten vor vielen Jahren auf die Verträge einigten. Zu diesem Jahrestag sind unsere Gedanken bei unseren Vorgängern, deren Traum von Europa Wirklichkeit geworden ist. Das ist ein Moment, in dem wir mit Stolz auf unsere Leistungen zurückblicken und uns auf die Werte besinnen, die uns miteinander verbinden. Dennoch muss dieses Jubiläum auch der Anfang eines neuen Kapitels sein. Es gibt große Herausforderungen. Es geht um unsere Sicherheit, unseren Wohlstand und die Rolle, die Europa in einer zunehmend mehrpoligen Welt zu spielen hat. Ein vereintes Europa muss sein Schicksal selbst in die Hand nehmen und eine eigene Vorstellung seiner Zukunft entwickeln. Dieses Papier ist ein Beitrag zu diesem neuen Kapitel des europäischen Projekts. Wir wollen einen Prozess anstoßen, in dem Europa seinen eigenen Weg bestimmt. Wir wollen die vor uns liegenden Herausforderungen aufzeigen und darlegen, wie wir uns auf eine gemeinsame Antwort verständigen. Wenn wir darüber entscheiden, welchen Weg wir einschlagen wollen, sollten wir uns daran erinnern, dass Europa immer dann am besten funktioniert, wenn wir vereint, selbstbewusst und zuversichtlich sind, dass wir unsere Zukunft gemeinsam gestalten können. Die Europäische Union hat unser Leben zum Besseren verändert. Wir müssen sicherstellen, dass dies auch für zukünftige Generationen so bleibt. Seit Generationen war Europa immer die Zukunft. Es begann mit der Vision von zwei politischen Gefangenen, die von einer faschistischen Regierung eingesperrt waren. Ihr Manifest zeichnete ein Bild, an dem Verbündete und Gegner zusammenkommen würden, um sicherzustellen, dass Europa nie wieder in seinen alten Irrsinn zurückfallen könne. Vor vielen Jahren, angeregt vom Traum einer friedlichen, gemeinsamen Zukunft, legen die Gründungsmitglieder der Europäischen Union den Grundstein für dieses ehrgeizige Europäische Integrationsprojekt. Sie einigten sich, ihre Konflikte an einem Tisch und nicht auf dem Schlachtfeld zu lösen. Sie setzten statt auf Waffen auf die Herrschaft des Rechts. Sie machten den Weg frei für den Beitritt weiterer Länder, um Europa wieder vereint und stärker zu machen. Als Ergebnis konnten wir unsere unruhige Vergangenheit hinter uns lassen und einer erweiterten Union von Millionen Bürgern Platz machen, die in Freiheit und einer der wohlhabendsten Volkswirtschaften der Welt zusammenlebt. Die Bilder von den Kämpfen in Schützengräben und Feldern wurden durch ein vereintes Europa ersetzt, das für Frieden und Stabilität steht. Die Opfer früherer Generationen sollten niemals vergessen werden. Menschenwürde, Freiheit und Demokratie waren hart erarbeitet und dürfen niemals aufgegeben werden. Selbst wenn das Streben nach Frieden für Europa heute eine andere Bedeutung als noch für unsere Eltern und Großeltern hat, verbinden uns diese zentralen Werte weiterhin. Die Europäische Union ist heute der Ort, wo Menschen eine einzigartige Vielfalt an Kulturen, Ideen und Traditionen genießen können. Die Europäische Union ist jetzt der Ort, wo sie lebenslange Freundschaften zu anderen Europäerinnen und Europäern geknüpft haben und über Staatsgrenzen hinweg reisen, studieren und arbeiten können, ohne die Währung zu verändern. Die Europäische Union ist jetzt der Ort, an dem der Rechtsstaat das Faustrecht ersetzt hat. Die Europäische Union ist jetzt der Ort, an dem von Gleichheit nicht nur gesprochen, sondern auch dafür gekämpft wird. Dennoch betrachten viele Europäer die Union zu weit entfernt oder zu störend in ihrem Alltag. Andere suchen ihren Mehrwert und fragen sich, wie Europa ihren Lebensstandard verbessert. Zu viele Menschen waren enttäuscht, als die Europäische Union ihre schlimmste Wirtschafts- und Sozialkrise der Nachkriegsgeschichte bewältigen musste. Die Herausforderungen Europas zeigen keine Zeichen von Abschwächung. Unsere Wirtschaft erholt sich von der weltweiten Finanzkrise, doch wird dies noch nicht gleichmäßig spürbar. Ein Teil unserer Nachbarstaaten wurde durch die Flüchtlingskrise aus dem Gleichgewicht gebracht. Terroranschläge erschüttern das Herz unserer Städte. Neue Weltmächte entstehen, während sich die alten neuen Realitäten stellen müssen. Im vergangenen Jahr hat ein Mitgliedstaat den Austritt aus der Europäischen Union beschlossen. Die aktuelle Situation muss die Zukunft Europas nicht unbedingt beeinträchtigen. Die Europäische Union ist schon oft gestärkt aus Krisen und vergebenen Möglichkeiten hervorgegangen. Europa stand oft am Scheideweg und hat sich stets angepasst und weiterentwickelt. In den vergangenen Jahren wurde die Union tiefgreifend reformiert und verändert sowie seine Größe verdoppelt. Wie bei den Generationen vor uns darf die Antwort auf die zukünftigen Aufgaben nicht nostalgisch oder kurzfristig sein. Wir sollten vielmehr in der gemeinsamen Überzeugung handeln, dass jeder Einzelne von uns davon profitiert. Wir müssen unseren Blick deshalb einmal mehr nach vorne richten. Dieses Papier stellt einige Szenarien vor, wie sich Europa im nächsten Jahrzehnt entwickeln könnte. Dabei stößt es eine Debatte an, neue Antworten zu finden, welche Zukunft wir für uns in der Union und für unsere Kinder wollen. Europa ist der größte Binnenmarkt der Erde mit der zweitwichtigsten Währung. Es ist die führende Handelsmacht und der größte Geber humanitärer Hilfe. Dank des größten multinationalen Forschungsprogramms der Welt ist Europa in Sachen Innovation führend. Seine Diplomatie trägt dazu bei, die Welt sicherer und nachhaltiger zu machen. Europa ist für viele seiner Partner attraktiv. Auch wenn kurzfristig keine neuen Erweiterungen zu erwarten sind, ist diese Perspektive ein wirksames Instrument, um für Stabilität und Sicherheit an unseren Grenzen zu sorgen. Die Europäische Union arbeitet aktiv mit ihren Nachbarstaaten im Osten wie im Süden zusammen. Europas Rolle als positive globale Kraft ist wichtiger denn je. Dieser Status aber ist eine einfache Realität. Europas Platz in der Welt schrumpft, wie andere Teile der Welt wachsen. Europas relative Wirtschaftskraft wird voraussichtlich abnehmen. Der rasch ansteigende Einfluss aufstrebender Volkswirtschaften unterstreicht die Notwendigkeit, dass Europa mit einer Stimme sprechen und mit dem kollektiven Gewicht seiner Mitgliedsländer handeln muss. Der Aufbau von Truppen an den östlichen Grenzen, Krieg und Terror in Afrika und Asien sowie die zunehmende Militarisierung veranschaulichen die weltweiten Spannungen. Nie war es notwendiger als heute, darüber nachzudenken, wie man sich vor Bedrohungen schützen kann, angefangen von groß angelegten Cyber-Attacken bis hin zu traditionellen Aggressionsformen. Europa darf nicht naiv sein und muss sich um seine eigene Sicherheit kümmern. Eine sanfte Macht ist nicht länger machtvoll genug, wenn Gewalt die Regeln außer Kraft zu setzen droht. Auch wenn die Welt nie kleiner und besser vernetzt war als heute, so weckt die Rückkehr zur Isolation Zweifel an der Zukunft des internationalen Handels und des Staatenbündnisses. Europas Wohlstand und seine Fähigkeit, unsere Werte auf der Weltbühne zu wahren, wird auch zukünftig von seiner Offenheit und starken Verbindung zu seinen Partnern abhängen. Es ist eine wachsende Herausforderung, für einen freien und fortschrittlichen Handel einzutreten und die Globalisierung zum Wohle aller zu gestalten. Die weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise hat Europa bis in seinen Kern erschüttert. Dank des entschlossenen Handelns hat die Wirtschaft inzwischen wieder angezogen und die Arbeitslosigkeit ist auf ihren niedrigsten Stand seit der großen Rezession gesunken. Allerdings ist die Erholung ungleichmäßig über die Gesellschaft und die Regionen verteilt. Es bleibt deshalb eine dringende Priorität, die Altlasten der Krise, von der Langzeitarbeitslosigkeit bis hin zur rohen öffentlichen und privaten Verschuldung, in vielen Teilen Europas zu überwinden. Die Herausforderung ist besonders groß für die jüngere Generation. Es besteht die Gefahr, dass es der heutigen Jugend schlechter gehen wird als ihren Eltern. Europa kann es sich nicht leisten, die am besten ausgebildete Altersgruppe zu verlieren und zuzulassen, dass Ungleichheit ihre Zukunftsaussichten verschlechtert. Diese Entwicklungen haben Zweifel an der sozialen Marktwirtschaft der Europäischen Union und ihrem Versprechen, niemanden zurückzulassen und dafür zu sorgen, dass es jeder Generation besser geht als der vorigen. Es wird in den kommenden Jahren sicher nicht einfacher, die Wettbewerbsfähigkeit und Widerstandsfähigkeit der europäischen Wirtschaft zu stärken. Europa altert schnell und die Lebenserwartung erreicht ein bisher unerreichtes Niveau. Neue Familienstrukturen, die Veränderungen in der Bevölkerung, die Verstädterung und die größere Vielfalt des Erwerbslebens werden sich auf den sozialen Zusammenhalt auswirken. Im Laufe von nur einer Generation hat der durchschnittliche europäische Arbeitnehmer statt einen Job fürs Leben mehrere Jobs in seiner Karriere. Heute sind mehr Frauen erwerbstätig als je zuvor, doch eine echte Gleichheit zwischen den Geschlechtern kann nur erreicht werden, wenn bestehende Hindernisse beseitigt werden. In einer Zeit, in der die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter schrumpft, muss sie das volle Potenzial seiner Talente mobilisieren. Europa hat bereits die fortschrittlichsten Sozialsysteme, die Lösungen für weltweite gesellschaftliche Herausforderungen bieten können. Seine Wissenschaft steht an der Spitze der weltweiten Forschung, um Krankheiten zu bewältigen. Die sozialen Sicherungssysteme müssen gründlich modernisiert werden und bezahlbar bleiben sowie mit den neuen demografischen und beruflichen Entwicklungen Schritt halten. Dies ist zweifellos wichtig, da Europa eine tiefgreifende Digitalisierung der Gesellschaft durchläuft, die bereits jetzt die Trennlinie zwischen Arbeitnehmern und Selbständigen, Waren und Dienstleistungen, Konsumenten und Produzenten verwischt. Viele der heutigen Arbeitsplätze gab es vor einem Jahr noch nicht. Viele weitere Arbeitsplätze werden in den kommenden Jahren entstehen. Die meisten Kinder, die heute eingeschult werden, dürften später einmal einer Beschäftigung nachgehen, die es heute noch gar nicht gibt. Die Herausforderungen aufgrund der zunehmenden Nutzung von Technologie und Automatisierung werden sich in allen Beschäftigungsarten und Branchen bemerkbar machen. Das Beste aus den neuen Chancen zu machen und gleichzeitig negative Auswirkungen zu vermeiden, erfordert eine massive Investition in Fertigkeiten sowie ein Umdenken von Bildungs- und Lernsystemen. Die Veränderungen der Arbeitswelt erfordern auch neue soziale Rechte. Gleichzeitig hat sich Europa zu einer ehrgeizigen Umstellung der Wirtschaft und zur Verringerung schädlicher Emissionen verpflichtet. Wir werden uns weiter an wachsende Klima- und Umweltbelastungen anpassen müssen. Unsere Industrie, Städte und Haushalte müssen die Art und Weise, wie sie arbeiten und sich mit Energie versorgen, ändern. Wir sind in den Bereichen digitale Technologie, effiziente Nutzung von Rohstoffen und in der globalen Bekämpfung des Klimawandels führend. Unsere Firmen halten die Hälfte der weltweiten Patente für erneuerbare Energietechniken. Eine unserer großen Herausforderungen ist es, innovative Lösungen im In- und Ausland auf den Markt zu bringen. Europa ist in Bezug auf seine Sicherheit ein bemerkenswert freier und stabiler Platz für seine Bürgerinnen und Bürger in einer Welt voller Unfrieden und Uneinigkeit. Allerdings hat der kalte Schrecken der jüngsten Terroranschläge unsere Gesellschaften erschüttert. Die zunehmend verschwommene Trennlinie zwischen interner und externer Bedrohung verändert die Art, wie Menschen über persönliche Sicherheit und über Grenzen denken. Dies geschieht widersinnig zu einem Moment, in dem es einfacher und selbstverständlicher denn je ist, für seine Arbeit und in der Freizeit um die ganze Welt zu reisen. Der Druck, der die Migration antreibt, wird sich verstärken und die Ursachen der Migration werden vielfältiger. Im Zuge der Auswirkungen von Bevölkerungswachstum, weitverbreiteten Spannungen und Klimawandel wird es zu mehr Migration aus unterschiedlichen Teilen der Welt kommen. Die Flüchtlingskrise hat ein noch nie dagewesenes Ausmaß angenommen. Dies führte zu einer umstrittenen Debatte über Solidarität und Verantwortung zwischen den Mitgliedstaaten und forderte eine umfassendere Frage nach der Zukunft der Grenzverwaltung und der Freizügigkeit innerhalb Europas. Für die Europäer, die jeden Tag in einen anderen Mitgliedstaat pendeln und jedes Jahr mit der Familie, als Tourist oder beruflich durch Europa reisen, gehören die Grenzen der Vergangenheit an. Dennoch haben die jüngsten Krisen zum ersten Mal seit der Zerstörung der Mauern vor kurzem dazu geführt, dass vorübergehend Kontrollen an bestimmten Grenzen innerhalb Europas wieder eingeführt wurden. Die vielfältigen Veränderungen in der Welt und das Gefühl der Unsicherheit, das viele Menschen real empfinden, haben zu einer wachsenden Unzufriedenheit mit der etablierten Politik und mit Institutionen auf allen Ebenen geführt.